1. Wie alles begann
„Junge…JUNGE!!!“, hallte die zornige Stimme des Vaters durch das kalte Haus.
Ein kleines Mädchen mit langem schwarzem Haar und einem durchaus hübschen Gesicht kauerte in einer dunklen Ecke und starrte mit angsterfüllten Augen zur gegenüberliegenden Treppe. Nicht mehr lange und es würde wieder losgehen.
Es war der 09. Januar 1965, Severas fünfter Geburtstag. Und Severa wusste genau, was das bedeutete.
Laute Schritte ertönten vom oberen Treppenabsatz her, jetzt würde er gleich bei ihr sein.
Und tatsächlich, keine Minute später zerrte der Vater sie schon an den Haaren aus ihrer Ecke ins kleine Wohnzimmer, wo er sie von sich schleuderte, so dass sie hart auf dem Boden aufschlug. Ihre großen, käferschwarzen Augen blickten feucht vor Tränen der Angst zu ihm auf.
„Papa, bitte nicht…bitte…nicht wieder…“, flehte sie leise, bekam jedoch nur einen harten Tritt in die Magengrube als Antwort.
Sie wollte nicht, dass er es wieder tat, doch es schien unvermeidbar.
„EILEEN! Komm her! Sofort!“, brüllte er voller Wut.
Augenblicklich erschien Severas Mutter in der Wohnzimmertür.
„Ja…was…was ist denn, Tobias?“, fragte sie mit gebrochener, zittriger Stimme.
„Mach es! Jetzt sofort!“, knurrte ihr Mann ihr aus dem Mundwinkel zu.
„Aber Tobias…sie ist doch noch so klein…lass sie doch…“, sie brach ab, als sie den eiskalten, hasserfüllten Blick ihres Mannes und seine knochige Faust auf ihrem Auge spürte. Wimmernd sank sie zu Boden und kroch auf allen Vieren zu ihrer Tochter, die sie liebevoll in den Arm nahm.
„Es tut mir so leid, mein Schatz, so leid…“, flüsterte sie zärtlich und strich ihr über das weiche Haar, doch ihre Augen füllten sich immer und immer wieder mit neuen Tränen, die ihr die ausgemergelten Wangen hinunter liefen.
„Lass das!“, brüllte der Vater und trat seiner Frau fest in den Rücken. Diese verzog schmerzerfüllt das Gesicht, regte sich aber ansonsten nicht. Die Jahre hatten sie hart gemacht, sie hatte sich an vieles gewöhnen müssen und körperliche Schmerzen waren für sie das geringste Übel. Solange nur ihrer geliebten Tochter nichts geschah. Doch jetzt war sie es selbst, die Severa ihr ohnehin schon von Schicksalsschlägen geprägtes Leben noch unerträglicher machen sollte. Sie war es, die die Seele ihres einzigen Kindes aus Angst vor ihren eigenen Mann in ihren Grundmanifesten erschüttern sollte. Severa sollte dieses Ereignis für den Rest ihres Lebens verfolgen.
„Jetzt mach schon! Sonst töte ich euch beide! Auf der Stelle! Hörst du, Missgeburt? Ich bringe es um!“, bei diesen Worten zeigte der Vater voller Abscheu auf seine Tochter.
„M-mama, mach was er sagt…bitte…“, flehte Severa leise. Sie wollte nicht, dass Mama etwas geschah. Mama war immer so liebevoll, auch wenn sie oft weinte und immer traurig aussah.
Für einen kurzen Moment flackerte etwas wie rebellischer Hass in Eileen Snapes Augen auf. »Ich bin eine Hexe, er ist nur ein Muggel…«, dachte sie, doch als sie ihm in die Augen sah, war ihr Wille gebrochen. Sie würde ihr einziges Kind, ihre geliebte Tochter, auf ewig entstellen.
Leise murmelte sie die Zauberworte, ein roter Lichtfaden schlängelte sich aus der Spitze ihres Zauberstabes und umhüllte den Körper ihrer Tochter. Severa schrie auf vor Schmerz, als ihr Körper sich zu verändern begann.
Nach einer Minute, die Eileen endlos lang vorkam, war alles vorbei. Neben ihr sank ihre Tochter erschöpft und weinend zu Boden.
„Ha! Siehst du? War doch gar nicht so schlimm!“, höhnte Tobias vom anderen Ende des Zimmers her.
„Mama? Was ist passiert? Was hast du mit mir gemacht?“, wimmerte Severa leise und weinte noch immer.
„Es ist gut, mein Schatz, es ist schon gut. Ich werde dich immer lieben, hörst du? Egal was passiert…ich liebe dich…“, flüsterte Eileen ihr ins Ohr, bevor sie ohnmächtig zusammenbrach.
„Komm her, Junge, na los, komm schon her!“, rief ihr Vater von der Tür her.
Severa sah ihn an. Sie hasste es, wenn er das tat. Sie war kein Junge, sie war ein Mädchen und nichts konnte das ändern. Trotzdem stand sie auf und ging zu ihrem Vater, ihre ohnmächtige Mutter hinter sich lassend. Jetzt, jetzt würde es passieren, sie war sich sicher. Sie sollte recht behalten.
Kaum stand sie vor ihrem Vater, schnellte seine Hand hinter dem Rücken hervor, in der er eine große, stumpfe Schere hielt.
„Komm her, du!“, knurrte er bedrohlich und Severa wagte es nicht mehr, sich zu bewegen. Schon begann er, ihr die Haare zu schneiden. Die Haare, auf die sie so stolz gewesen war.
Die Schere war stumpf, daher riss er ihr mehr Haare heraus, als er abschnitt, doch Severa war tapfer und konnte die Tränen zurückkämpfen. Jedenfalls für den Moment.
Als er mit der schmerzhaften Prozedur fertig war sah er sie an, drehte sie in alle Richtungen und nickte zufrieden.
„Ja, das ist mein Sohn!“, lächelte er, fast zärtlich. Doch schon kam seine übliche Härte zurück. „Zieh dich aus! Na los, mach schon! SOFORT!“
Zögernd zog Severa die alte, verschlissene Hose und das löchrige T-Shirt aus.
„Die auch!“, fauchte Tobias und zeigte auf ihre Unterhose.
Severa tat, wie ihr geheißen, auch wenn sie nicht wusste, wozu das gut sein sollte. Und plötzlich lächelte ihr Vater. Sie hatte ihn fast noch nie lächeln sehen. Erst vier Mal bisher. Jedes Mal an ihrem Geburtstag, wenn er ihr die Haare schnitt. Doch jetzt war es anders. Er schien vollkommen zufrieden zu sein.
„Tatsächlich, alles dran.“, nickte er zufrieden. „Du kannst dich wieder anziehen, Sohn.“
Schnell schlüpfte Severa wieder in ihre Kleidung, denn in dem Haus war es nicht nur sehr kalt, es war ihr auch unglaublich unangenehm so vor ihm zu stehen und begutachtet zu werden.
„Und jetzt geh ins Bad und sieh dich mal in Ruhe an.“, lächelte er fast liebevoll, was sie erschreckte. So hatte sie ihn noch nie gesehen, sie konnte nicht einschätzen, was er nun als nächstes tun würde, das machte ihr Angst. Umso schneller nutze sie die Gelegenheit, von ihm wegzukommen und rannte die Treppe hinauf ins Bad. Was konnte er nur damit gemeint haben, sie solle sich betrachten? Sie verstand das alles nicht. Doch in ihr wuchs die Neugier und sie sah nach, wieso ihr Vater von ihr verlangt hatte, ihre Unterhose auszuziehen.
Schweißgebadet erwachte Severus Snape in seinem harten Bett, das in den Kerkern von Hogwarts stand. Er schüttelte sich, um das Gefühl, das ihn noch heute manchmal übermannte und ihn in die Tiefe zu reißen drohte, abzuschütteln. Er hasste diesen Traum und doch konnte er sich nicht gegen ihn wehren. Immer und immer wieder, Nacht für Nacht, holte ihn seine frühste Kindheit wieder ein. Die Vergangenheit war etwas Abscheuliches, das man besser vergessen sollte, doch er konnte es nicht. Wieder und wieder träumte er von diesem Tag, seinem fünften Geburtstag.
Nach einiger Zeit, in der er versucht hatte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, fiel er erneut in unruhige Träume.
„Nein…nein…“, wimmerte Severa entsetzt, als sie sah, worüber ihr Vater sich so gefreut hatte.
„Ich will kein Junge sein…ich will kein Junge sein…“, weint sie leise, doch sie wusste, dass sie nichts mehr daran ändern konnte. Ihre Mutter hatte aus ihr einen Jungen gemacht…
Als Severa in den Spiegel sah, sah sie, dass auch ihre Haare diesmal wesentlich kürzer waren als sonst jedes Jahr zu ihrem Geburtstag. Ihr Gesicht hatte sich ebenfalls verändert. Sie sah nicht mehr ihrer Mutter ähnlich, mit ihren großen runden Augen, den langen schwarzen Wimpern und dem wohlgeformten Gesicht, jetzt war sie das reinste Ebenbild ihres Vaters. Ausgemergeltes Gesicht, eine hagere, knochige Gestalt, kleine, tiefschwarze Augen, grimmiger Blick und eine viel zu große Hakennase. So wollte sie aber nicht aussehen…nie im Leben wollte sie aussehen wie ihr Vater…nicht wie er. Verzweifelt kratzte sie sich die Haut auf, hoffte darunter sei ihr altes ich verborgen, doch stattdessen hinterließen ihre Fingernägel lange Kratzspuren in ihrem Gesicht, die stark bluteten.
„Nein…nein…bitte nicht…nein…“, heulte Severa, immer verzweifelter, immer hoffnungsloser.
Sie rannte die Treppe wieder hinunter, wo sie ihrem Vater direkt in die Arme lief.
„Aber, aber, was hast du denn?“, fragte er fröhlich. Aus ihren verweinten Augen sah sie ihn hasserfüllt an, doch er nahm nur ein altes, dreckiges Taschentuch und betupfte damit etwas ruppig ihr Gesicht.
„So, jetzt hat es aufgehört zu bluten, siehst du, Severus?“
Das war das erste Mal, dass er Severus genannt wurde.
Wieder erwachte Severus, diesmal durch seinen eigenen, lauten Schrei.
„Nein…nein…bitte nicht…“, wimmerte er verzweifelt, bis er merkte, dass er wach war, dass alles „nur“ ein Traum gewesen war. Doch es war schon zu spät. Zwei dicke Blutstropfen waren aus seinem Gesicht auf das Kopfkissen gefallen. Zornig wischte er die Tränen und das Blut weg und ging dann in seine Vorratskammer. Dort suchte er zwei kleine Fläschchen aus dem Sammelsurium aus großen und kleinen Behältern aller Formen und Farben heraus.
Mit den beiden Fläschchen ging er in das kleine Badezimmer. Aus dem ersten Fläschchen gab er einige Tropfen der enthaltenen Flüssigkeit auf ein Handtuch und tupfte damit die aufgerissenen Stellen in seinem Gesicht ab. Es zischte kurz, Schmerz flammte in ihm auf, doch so schnell, wie es gekommen war, war es auch vergangen und seine Haut wie nicht einmal mehr einen Kratzer auf.
Den Inhalt des zweiten Fläschchens nahm er mit zu seinem Bett, hielt es kurz vor seine Augen und nahm dann einen wohl dosierten Schluck.
Augenblicklich fiel er in einen traumlosen Schlaf, der ihm endlich etwas Ruhe schenkte.
Die Ruhe, die seine Seele so dringend brauchte.
geschrieben von Jane Lovett